Chronik

Publikumsbeschimpfung

Von Peter Handke

Die Inszenierung wurde anläßlich des Deutschen Juristentages 2002 in Berlin vom Gefangenentheaterensemble aufBruch in der JVA Tegel erarbeitet.

 

Premiere: 17.09.2002

Vorstellungen: 19., 25., 27. September sowie 02., 04. und 11. Oktober 2002

Der Text von Peter Handke bekommt im Konfliktfeld Gefängnis eine ungeheure Aufladung und neue Dimensionen werden erschlossen. Zumal, wenn mit Chören von Gefangenen gearbeitet wird und die Theatermetapher in das Gefängnis übertragen wird, in eine geschlossene Welt, in der es sonst keine Zuschauer gibt.

 

"Das ist kein Drama. Hier wird keine Handlung wiederholt, die schon geschehen ist. Hier gibt es nur ein Jetzt und ein Jetzt. Hier ist die Zeit wirklich. Hier flieht die Zeit in den Worten. Hier wird Ihnen mitgespielt. / Sie sind hier keine Subjekte. Sie sind hier Objekte."   (P. Handke)

 

Die Irritierung und die Erregung, die von einer Gruppe gemeinsam sprechender Menschen ausgeht, wird als erschreckende Bedrohung empfunden, die an längst überwundene Zustände erinnert. Trotz dieser Dauerabwehr lebt der inhaltliche Ansatz in allen Antiken-Aneignungen des Sprechtheaters weiter und damit auch die antike Konstellation der Einzelfigur, des werdenden Individuums, das der Chor ausschließt.

 

"Hier ist keine andere Welt als bei Ihnen. Wir sind alle im selben Raum. Wir sind nicht Bilder von etwas. Wir sind keine Darsteller. Wir haben keine Rollen. Wir sind wir."   (P. Handke)

 

Der antike Chor ist ein erschreckendes Bild: Figuren rotten sich zusammen, stehen dicht bei dicht, suchen Schutz beieinander, obwohl sie einander energisch ablehnen, so, als verpeste die Nähe des anderen Menschen einem die Luft. Damit ist die Gruppe in sich gefährdet, sie wird jedem Angriff auf sich nachgeben, akzeptiert voreilig angstvoll ein notwendiges Opfer, stößt es aus, um sich freizukaufen. Obwohl sich der Chor des Verrats bewußt ist, korrigiert er seine Position nicht, bringt vielmehr das Opfer in die Position des eindeutig Schuldigen. Das ist ein Vorgang, der sich jeden Tag wiederholt.

 

"Hier werden Sie nicht als Einzelmenschen behandelt. Sie sind hier nicht einzeln. Sie haben hier keine besonderen Kennzeichen. Sie haben keine besondere Physiognomie. Sie sind hier kein Individuum. Sie haben keine Charakteristiken. Sie haben kein Schicksal. Sie haben keine Geschichte. Sie haben keine Vergangenheit. Sie sind keine Persönlichkeiten. Sie sind keine Einzahl. Sie sind eine Mehrzahl von Personen."
"Hier unten gibt es keine Ordnung. Die Welt ist hier weder heil noch aus den Fugen. Das ist keine Welt."   (P. Handke)

 

Der Feind-Chor, das sind zunächst nicht die Millionen Nichtweißer, Verreckender, Kriegsplünderer und Asylanten, sondern die Andersdenkenden, vor allem der, der die eigene Sprache spricht. Ihn gilt es zuerst auszulöschen, egal wie.
Aber bis zu dieser Abrechnung ist die antike Konstellation lebendig, kämpfen Chor und Individuum noch, rumort dessen Verhältnis zu den anderen, den zuvor Isolierten, deren Verhältnis untereinander und insgesamt, gegen den Chor, der sie erfolgreich abzuwehren hofft.

 

"Das Theater spielte Tribunal. Das Theater spielte Arena. Das Theater spielte moralische Anstalt. Das Theater spielte Träume. Das Theater spielte kultische Handlungen. Das Theater spielte einen Spiegel für Sie. Das Spiel ging über das Spiel hinaus. Es deutete auf die Wirklichkeit."   (P. Handke)

 
Regie: Peter Atanassow, Dramaturgie: Christine Boyde, Bühne: Peter Atanassow & Holger Syrbe, Kostüme: Bettina Friedli
 
Eine Produktion von aufBruch KUNST GEFÄNGNIS STADT
Gefördert von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur
Mit freundlicher Unterstützung von:
HEBBEL-THEATER - KUNST & KNAST e.V. - PROKULTUR GmbH sowie der JVA TEGEL

Fotos Copyrigt Thomas Aurin.
Jede Art der Verwendung nur nach vorheriger Genehmigung durch aufBruch / Thomas Aurin

www.thomas-aurin.de

 

Pressestimmen

... seit Einar Schleef tot ist, hat man im Theater nicht mehr so eine geballte Schlachtruf-Kanonade gesehen wie bei dieser furiosen Inszenierung der Knast-Theatergruppe aufBruch ...

 

... einmal tanzen die Männer Walzer, als ungleiche Zweierpaare zu einer falschen Harmonie zusammengesteckt, im Gesicht bleibt jeder für sich. Diese unbestimmt melancholischen Momente sind es wohl, die großes Theater bedeuten, es ist keine laienhafte Betroffenenspielgruppe, die hier auftritt.

 

 

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Spielort:
JVA Tegel
Seidelstr. 39 / Tor 2
13507 Berlin
BVG-Anfahrt: U-Bahn-Linie 6 Otisstr.
/ Holzhauser Str.

 

 

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