Chronik
Kaspar Hauser
Kaspar Hauser steht für das unbekannte und gefürchtete Wesen. Er tauchte am 26. Mai 1828 in Nürnberg als etwa 16-jähriger, geistig anscheinend zurückgebliebener und der Sprache nicht mächtiger Jugendlicher auf. Er wurde untersucht, gepäppelt, dressiert und starb fünf Jahre später, als kein Interesse mehr an ihm bestand, an einem Messerstich. Trotz oder gerade wegen der in ihn gesetzten Erwartungen und des damit einhergehenden Drucks konnte ihm der gesellschaftliche Common Sense nicht verständlich werden. Ein Scheitern traditioneller Bildungs- und Erziehungsmaßnahmen, das bis heute Reibung bietet.
Die meisten Insassen der Jugendstrafanstalt Berlin kommen wie Hauser aus einer uns unbekannten Parallelwelt. Ihre Sprache, ihre Sicht, ihr Verhalten bleiben fremd. Sie sind jener, ihrer, Welt angepasst und passen nicht in unsere. Sie werden wie Kaspar Hauser erst wahrgenommen, wenn sie zu einem Fall werden. Wie ihr Vorgänger in Nürnberg 1828 brechen sie in unseren geregelten Alltag ein und werden zu Objekten der (Re-)Sozialisierung auf pädagogischer, therapeutischer, publizistischer und nicht selten gar politischer Ebene. Damit teilen sie Hausers Schicksal.
Interessant am Fall des berühmten Findelkindes Kaspar Hauser ist für ein heutiges Publikum weniger seine bis heute ungeklärte Herkunft, die Umstände seines Auftauchens, die unvorstellbaren Bedingungen seiner jahrelangen Isolation und die Ungeheuerlichkeit seines Überlebens, sondern das sich in seinem Schicksal widerspiegelnde Selbstverständnis bürgerlicher Bildung und Erziehung im Zuge der Aufklärung.
Das gemeinsame Spiel der Musikschüler aus dem Wedding mit den jugendlichen Inhaftierten ist ein Grenzgang - zwischen Drinnen und Draußen, zwischen Musik und Theater, zwischen Instrument und Stimme.
Es spielt das Gefangenenensemble der JSA Berlin gemeinsam mit Musikschülern der Musikschule „Fanny Hensel“: Mahmoud Zeidan, Antonio MIB, BLIZZ, Sébastien, Shahid, Bufas, Vitalij, Gino, Nasib, Yasin, Kima, Karina Pergl, Marko Dedus, Anthony Kern, Thomas Meier und Maxi Heinecke.
Regie: Peter Atanassow Bühne: Holger Syrbe Kostüme: Ildiko Okolicsanyi Musikalische Leitung: F. J. Schneider Dramaturgie: Jörg Mihan Choreografie: Winfried Tesmer Produktionsleitung: Sibylle Arndt Pressearbeit: Björn Pätz Regieassistenz: Carolin Forkel Technik: Torsten Rohrmoser Grafik: Alexander Atanassow
Fotos
Fotos: Copyright Thomas Aurin.
Jede Art der Verwendung nur nach vorheriger Genehmigung durch aufBruch / Thomas Aurin
Pressestimmen
„Die Bühne gehört ihnen. Es ist ihr Stück, ein Stück ihres Lebens, das sie erzählen. ‚Ich möchte ein solcher Reiter werden, wie mein Vater einer gewesen ist’, rufen sie zu Beginn. Jeder für sich. Auf Deutsch, Türkisch, Französisch, Russisch, Arabisch. Es ist einer der wenigen überlieferten Sätze von Kaspar Hauser, dem Sonderling, dem Wilden, dem Geheimnisvollen und Vergessenen, in dessen Leben sie nach dem ihren suchen.(…)
Es wird gerappt, marschiert, gebrüllt und filigran sprachwissenschaftlich zum Begriff "Opfer" referiert.
Die Bühnenpräsenz der Darsteller ist überwältigend. Wie sie ihre Texte schmettern, die Worte zuvor im Mund erst erfühlen. Dieses Theater hat mit den Menschen zu tun, mit jenen auf der Bühne und vor der Bühne, mit dem Gebäude, in dem die Bühne steht und mit der Stadt drumherum. Es geht alle an.“
Berliner Zeitung, Daniela Zinser
Heute Abend präsentieren die Jungs ihr neues Stück „Kaspar H.“. Erzählt wird von der jahrelangen Gefangenschaft des Findelkinds und seiner Isolation. Themen, die die Straftäter kennen.
Sechs Wochen lang arbeiteten sie mit Regisseur Peer Atanassow an dem Text. Eindrucksvoll und beklemmend ist die Szenerie in der JVA, der Auftritt der Straftäter bewegend.
BZ, Miriam Mey Khammas
Kaspar H. the show is a non-linear collage about re-integration and education, and the effects this has on young men. The young men, all dressed in white, with black boots and braces, speak in chorus or watch as one of them addresses the audience. (…)
Thus, the show includes raps, songs (backed by an excellent band of students of the Fanny Hensel music school in Mitte), dance, martial arts and plenty of choral speaking, all in a Babel-like collection of languages.
The Local, Ben Knight
Spielort:
JSA Berlin (Kultursaal)
Friedrich-Olbricht-Damm 40 - Pforte 3
13627 Berlin
S-Bahn Beusselstraße
Bus 123 Friedrich-Olbricht-Damm/Heckerdamm